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„Straßennamen sind Erinnerungsorte“

Erstellt von Pressestelle |

Zum Umgang mit historisch belasteten Straßennamen in Memmingen – Kommission informiert über Vorgehensweise

Wie geht eine Kommune mit historisch belasteten Straßennamen oder Ehrenbürgerwürden um, die heute problematisch gesehen werden? Soll eine Straße neu benannt oder eine Kommentierung aus heutiger Sicht angebracht werden? Ist das überhaupt notwendig? Ja, eine wissenschaftliche und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema ist notwendig, entschied der Memminger Stadtrat 2022, als er die Gründung einer „Kommission zum Umgang mit historisch belasteten Straßennamen und Ehrenbürgerwürden“ beschloss. Seit eineinhalb Jahren werden Straßenbenennungen sowie verliehene Ehrenbürgerwürden in Memmingen evaluiert und Mitglieder der Kommission informierten nun vor rund 70 interessierten Bürgerinnen und Bürgern im Antoniersaal über ihre Vorgehensweise und Kriterien der Überprüfung. 

„Straßennamen sind Erinnerungsorte, sie laden zur Identifikation ein, sie vermitteln Identität“, erläuterte Prof. Dr. Martina Steber vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Augsburg. Die Benennung einer Straße nach einer Persönlichkeit, die als herausragend und vorbildlich angesehen wird, sei immer eine Ehrung und zugleich Ausdruck von Werten der Gesellschaft. „So wurden Städte im 19. und 20. Jahrhundert mit einem Netz an Personen gewidmeten Straßennamen überzogen, die zusammen einen bürgerlichen Wertekosmos ausmachen sollten.“ Wertvorstellungen unterliegen dabei einem historischen Wandel, betonte Steber. „Ändert sich die normative Ordnung stark und erscheinen einzelne Epochen der Geschichte in einem neuen, kritischen Licht, können Straßenbenennungen wie aus der Zeit gefallen wirken. Dann werden sie problematisiert und müssen neu verhandelt werden. Das passiert gerade landauf, landab. Dabei gehört Streit zur Demokratie.“ Und sie betonte: „Solche Straßennamendebatten sind eine Chance für die Erinnerungskultur. Sie sollte genutzt werden.“ 

In München werden die Straßennamen seit 2016 systematisch überprüft, informierte Dr. Andreas Heusler vom Referat Erinnerungskultur der Stadt München. Von über 6.000 Straßennamen hätten 45 einen erhöhten Diskussionsbedarf, was eine Umbenennung angehe, bei 330 Namen sei ein Kommentierungs- oder Kontextualisierungsbedarf festgestellt worden. Der Kriterienkatalog der Überprüfung sei sehr weit gefasst, erklärte Heusler. Untersucht würden Kriterien wie NS-Belastung, imperialistische Haltung, Kolonialismus, rassistische Haltung, Frauenfeindlichkeit etc. 
 
Werden zukünftig in Memmingen Straßen umbenannt, sollte die Kommission feste Kriterien für die Neuvergabe von Namen festgelegen, regte eine Besucherin des Abends an. „Über Straßenbenennungen definieren sich lokale Gesellschaften, sie wählen aus, was erinnerungswürdig ist“, erklärte Prof. Steber. Zwischen den 1950er und 1980er Jahren seien in vielen Gemeinden Persönlichkeiten auf Straßenschilder gehoben worden, die für ihre Verdienste um die Gemeinde geehrt wurden. „Darunter waren sehr viele Männer der lokalen Elite, die das NS-Regime mitgetragen, zum Funktionieren der nationalsozialistischen Herrschaft vor Ort ihren Teil beigetragen hatten. Dasselbe galt für Männer aus Wirtschaft und Wissenschaft. Diese Involvierung wurde nach 1945 in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft bestritten.“ Die Schuld sei dagegen auf die Männer an der Spitze des Reichs konzentriert worden. Adolf-Hitler- oder Horst-Wessel-Straßen seien nach dem Einmarsch der Alliierten daher schnell verschwunden. 

Dass Diskussionen zur möglichen Umbenennung von konkreten Straßennamen emotional geführt werden, zeigten mehrere Beiträge aus dem Publikum. „Wir brauchen eine sorgfältige wissenschaftliche Forschung zu den bestehenden Straßennamen als Grundlage für die Diskussion“, betonte Oberbürgermeister Jan Rothenbacher. 

Der Fokus der Forschung der Kommission in Memmingen liege zunächst auf der Zeit des Nationalsozialismus, informierte Stadtarchivar Christoph Engelhard. Dazu erfolge eine vorrangige Überprüfung der Straßenbenennung bei gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, etwa bei einem auch für die jeweilige Lebenszeit des Namensgebers extremen Militarismus oder einer Verherrlichung kriegerischer Ereignisse, bei Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder Rassismus. Mit Blick auf die NS-Zeit würden Straßennamen überprüft, wenn beispielsweise eines oder mehrere folgender Verdachtsmomente vorliegen:
•    Verdacht auf Unterstützung und Förderung des nationalsozialistischen Regimes und seiner Ideologie (in Führungspositionen oder durch propagandistisches Engagement).
•    Verdacht auf direkte, persönliche, berufliche oder wirtschaftliche Vorteilnahme, die aus der Parteinahme für das NS-Unrechtssystem hervorging.
•    Verdacht auf Beteiligung an Kriegsverbrechen, Völkermorden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (z.B. Kriegs- und Besatzungsverbrechen, Verbrechen im Zusammenhang mit „Euthanasie“ und NS-Rassenhygiene).
•    Als erschwerend werde angesehen, wenn Namensgeber nach 1945 keinerlei kritische Selbstreflexion erkennen ließen, ein Schuldeingeständnis ausblieb oder NS-Verbrechen geleugnet oder verharmlost wurden.

Von 736 Straßen in Memmingen seien rund 300 nach Personen oder Ereignissen benannt, informierte der Stadtarchivar. Ein Straßenverzeichnis mit Erläuterungen zum Namensgeber wurde begonnen, es ist auf der Internetseite des Stadtarchivs online einsehbar. Zur Überprüfung werden Unterlagen in Archiven eingesehen, beispielsweise die Spruchkammer- und Justizakten der Staatsarchive Augsburg und München oder Unterlagen der NSDAP-Kreisleitung Memmingen. Auch im Memminger Stadtarchiv werden wichtige Quellen ausgewertet wie Meldeunterlagen oder Protokolle und Akten zu Straßenbenennungen oder Zeitungen. Zu jedem Straßennamen werden Informationen zusammengetragen zu Lebenszeit und Beruf/ Funktion, zur politisch-gesellschaftlichen Betätigung und Haltung vor, während und nach der NS-Zeit, zur Entnazifizierung, zu eigenen Stellungnahmen, Verdiensten und Auszeichnungen. Neben den Straßennamen werden auch Ehrenbürgerwürden überprüft, die seit 1866 verliehen werden, wobei die Ehrenbürgerwürde mit dem Tod der Person endet.

Die Kommission setzt sich zusammen aus der politischen Stadtspitze mit Oberbürgermeister und Bürgermeistern, aus Stadtratsmitgliedern aller Fraktionen als demokratisch gewählte Repräsentanten der Stadtgesellschaft, sowie aus Verwaltung und Wissenschaft: 
•    Oberbürgermeister Jan Rothenbacher
•    Bürgermeisterin Margareta Böckh, 
•    Bürgermeister Dr. Hans-Martin Steiger
•    Heribert Guschewski (Stadtrat, CRB), Vertretung: Helmut Barth
•    Michael Rampp (Stadtrat, ÖDP), Vertretung: Nina Keckeis
•    Sabine Rogg (Stadträtin, CSU), Vertretung: Horst Holas
•    Dr. Monika Schunk (Stadträtin, B´90/Die Grünen), Vertretung: Rupert Reisinger
•    Rolf Spitz (Stadtrat, SPD), Vertretung: Matthias Reßler
•    Gottfried Voigt (Stadtrat, FW), Vertretung: Jürgen Kolb
•    Prof. Dr. Martina Steber, Institut für Zeitgeschichte, Universität Augsburg
•    Dr. Andreas Heusler, Referat Erinnerungskultur, Stadt München
•    Dr. Konrad Sziedat, Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit
•    Sebastian Huber, Kulturamt Memmingen
•    Christoph Engelhard, Stadtarchiv Memmingen 

Der Informationsabend wurde moderiert von Doris Bimmer, Redakteurin des Bayerischen Rundfunks. 
 

Auf dem Podium (v.l.): Moderatorin Doris Bimmer (Bayerischer Rundfunk), Dr. Andreas Heusler (Referat Erinnerungskultur, Stadt München), Prof. Dr. Martina Steber (Institut für Zeitgeschichte, Universität Augsburg und Oberbürgermeister Jan Rothenbacher (Foto: A. Wehr/ Pressestelle Stadt Memmingen)